Die Dimension "Meditationstiefe"
An und für sich ist Meditationstiefe ein subjektives Phänomen. Aber sie ist objektivierbar, so dass intrasubjektive wie auch intersubjektive Vergleiche möglich werden. Wie ich in meinen Studien zeigen konnte, stimmen sehr erfahrene Meditationsexperten unterschiedlicher Traditionen in der Beurteilung verbalisierter Meditationserfahrungen hinsichtlich ihrer ausgedrückten Tiefe hochsignifikant überein. Somit ließ sich eine traditionsunabhängige und methodenübergreifende Dimension der Meditationstiefe evaluieren, validieren und replizieren (Piron, 2003, 2020).
Unabhängig von der Tradition führt Meditation zunächst zu einer Entspannung (2. Tiefenbereich), sobald die anfänglichen Hindernisse (1. Tiefenbereich) nahezu überwunden sind. Mit zunehmender Stabilität und Wachheit der Aufmerksamkeit wird eine innere, konzentrierte, starke Energie erfahren (3. Tiefenbereich). Mit weiterhin wachsender geduldiger Ausdauer stellen sich mit der Zeit Gleichmut und innerer Frieden ein. Gedankliche Bewegungen können die Klarheit des Bewusstseins nicht mehr trüben und nehmen ab.
Im vierten Tiefenbereich hört das für den Alltag typische Erleben der körperlich und biografisch geprägten Ich-Identität auf. Das nennt man auch „Selbsttranszendenz“. Das eigene Selbst wird durchlässiger für eine überpersönliche Wirklichkeit. Erweiterte Bewusstseinszustände und transpersonale Qualitäten wie universelle Verbundenheit und Mitgefühl, grenzenlose Liebe, unermessliche Freude und Dankbarkeit werden erfahrbar. Zeit- und Körpergefühl lösen sich auf. Geistige, leuchtende Klarheit und das Erleben einer formlosen, ungebundenen Energie werden intensiver.
Im fünften Tiefenbereich kommt das Bewusstsein in seinem Seins-Grund an. Da gibt es keine Grenzen mehr. Es ist nun nicht mehr in irgend einer Weise konfiguriert, identifiziert, skalierbar oder unterscheidbar. Es wird in seiner grundsätzlichen Nicht-Dualität erfahren, als leer, all-eins, formlos und zeitlos. Da ist kein Subjekt und kein Objekt mehr, kein Gegenstand oder Inhalt, kein Anfang oder Ende, kein Gedanke und kein Denker. Dieser Zustand des Angekommen-Seins (im überzeitlichen, nicht-linearen Sinne) ist in sämtlichen meditativen Traditionen gut dokumentiert worden (Piron, 2020). Er darf nicht mit einer emotionslosen Gleichgültigkeit, körperlichen Antriebslosigkeit und geistigen Lethargie oder apathischen Teilnahmslosigkeit verwechselt werden. Die geistige Wachheit ist erhöht, nicht vermindert. Die vorherigen Tiefenbereiche werden nicht ausgelöscht, sondern integriert. So sind Konzentration, Achtsamkeit, Wachheit und Klarheit weiterhin Qualitäten des Bewusstseins, und Liebe, Verbundenheit, Mitgefühl und Freude sind weiterhin Qualitäten des Erlebnis-Stroms. Gefühle werden noch subtiler als im vorherigen Tiefenbereich, falls man sie überhaupt so nennen oder einordnen kann. Ich nenne sie daher lieber „transpersonale Erlebnisqualitäten“. Sie werden nicht von außen oder vom Körper kontrolliert. Sie sind nicht mehr getrennt von jenem unerschütterlichen Gleichmut und grenzenlosen Frieden, von dem die Erwachten berichten. Es wäre falsch, von einer Gefühlslosigkeit in diesem Tiefenbereich zu sprechen. Typischerweise resultiert aus dem Andocken im Seins-Grund eine sehr tiefe und beglückende Demut. Emotionale Kälte, Hochmut, Überheblichkeit oder Stolz sind mit diesem Tiefenbereich unvereinbar. Sanftmut und innere Stärke gehen hier Hand in Hand. Der Mensch, der hier angekommen ist, ist bildlich gesprochen sowohl der Fels in der Brandung wie auch der alles-umfassende Ozean, wie auch der grenzenlose Grund der Meere.